TQJ 1/2023

Rezensent:
Georg Patzer

Anne Cheng:
Grundriss Geschichte des chinesischen Denken
übersetzt von Ulrich Forderer
Meiner 2022, 628 S. geb., € 78,
ISBN 978-3-7873-3973-0

Unsere theoretischen Grundlagen wur- den zur Zeit der Streitenden Reiche erfunden. In »Zuos Kommentar« aus dem 4. Jahrhundert v. u. Z. steht, dass der Himmel sechs Hauche hat: »Die sechs Hauche sind das Yin (Schatten) und das Yang (Sonne), der Wind und der Regen, die Dunkelheit und das Licht. Sie verteilen sich auf die vier Jahreszeiten und gliedern (das Jahr) in fünf Abschnitte.« Yin und Yang waren damals noch Beschreibungen von konkreten Erscheinungen der Beobachtung, erst ein paar Jahrzehnte später fasste man sie als »zwei Urhauche oder kosmische Prinzipien« auf. Danach kam die Theorie der fünf Wirkkräfte auf, die im Deutschen fälschlich mit »Elemente« übersetzt werden – mit solcher Statik haben sie nichts zu tun: Das Xing in Wuxing bedeutet »gehen, laufen, handeln«, die Wuxing sind also eher Prozess als Substanz. Wir im Westen haben mit solch einem Denken unsere Probleme und vermurksen oft mit Übersetzungen das Wesen des chinesischen Denkens.

Es gibt nur wenige Werke, die uns im Wes- ten dieses Denken wirklich nahebringen können. Eines ist Francois Julliens »Vom Sein zum Leben«, das andere die 25 Jahre alte, jetzt endlich auf Deutsch erschienene »Geschichte des chinesischen Denkens« von Anne Cheng. Sie schafft es, eine mehrtausendjährige Geschichte von den Shang und Zhou und ihrem Ahnenkult und der »wahrsagerischen Rationalität« bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts lesbar, tiefgründig, detailliert und dabei übersichtlich darzustellen. Die »konfuzianische Wende« und Zhuangzi und Laozi haben lange Kapitel, »die große buddhistische Umwälzung«, die konfuzianische Renaissance und die geistige Erneuerung während der Han-Dynastie. In vielen Details stellt sie die Schulbildungen und häufigen geistigen Aufbrüche dar und geht auch auf nicht so bekannte Denker ein, Autoren, die gemeinhin nicht als Philosophen gesehen werden.

Die Begriffe Qigong oder Yangsheng kommen nicht vor, aber Anne Cheng stellt sehr ausführlich die Diskussionen über den »Höchsten First« (Taiji) vor, zum Beispiel die Bemühungen Shao Yongs, die »Korrelation zwischen der Struktur von Himmel-und-Erde und dem menschlichen Wissen anhand der Hexagramme« des Yijing aufzuzeigen. Oder die Diskussionen über »Ohne-First« und »Höchster First« (Wuji und Taiji), das Qi oder das Dao, die sie durch die Jahrhunderte immer wieder aufgreift. Und damit sind wir ja tief in der Theorie unserer Praxis.

Für eine intensive und detaillierte Beschäftigung mit dem chinesischen Denken ist dieses Buch jetzt schon ein Standardwerk, mit ausführlichen Registern, Fußnoten und Kommentaren, wie sich das gehört. Zu loben, und das macht schon Anne Cheng im Vorwort zur deutschen Ausgabe, ist auch der Übersetzer Ulrich Forderer, der durch seine Fragen die Autorin zur Überarbeitung ihres Textes anregte. Er hat auch mit chinesischen Ursprungstexten gearbeitet und sogar die Fußnoten zwischen der französischen und der deutschen Ausgabe auf den neusten Stand der Forschung gebracht, die ja in den 25 Jahren nicht müßig war, und verweist auch auf Sekundärliteratur in englischer, französischer und deutscher Sprache – eine grandiose Leistung.