TQJ 3/2023

Rezensent:
Georg Patzer

Lou Reed:
The Art of the Straight Line: Mein Tai Chi
Hrsg. von Laurie Anderson btb 2023, 328 S. geb., € 28,
ISBN 978-3-442-76235-4

»Die Ästhetik ist erstaunlich. Wenn man allein die Bewegung erfasst, tanzt man. Keine Kraft. Besitzt man Kraft, aber kein Staunen, ist man nur ein Affe mit einer Waffe.« Das sagt nicht ein anerkannter Taijiquan-Meister, sondern ein weltberühmter Musiker, Lou Reed. Inzwischen ist bekannt, dass er jahrzehntelang Taijiquan geübt hat, mit seinem wichtigsten Lehrer Ren Guang Yi hat er sogar Auftritte gestaltet: Lou Reed saß an der Gitarre und Ren Guang Yi führte eine Form aus dem Chen-Stil vor. »Es hat mein Leben gerettet«, bekannte Lou Reed.

Gegen Ende seines Lebens hat er angefangen, ein Buch darüber zu schreiben, ist aber über wenige Seiten nicht hinaus- gekommen. Nach seinem Tod 2013 hat seine Witwe, die Musikerin und Künstlerin Laurie Anderson, einige seiner Weggefährten gebeten, von ihm und seinem Taijiquan zu erzählen: den Producer Tony Visconti, den Dichter Bill O’Connor, den Martial-Arts-Lehrer Peter Morales, den Regisseur Julian Schnabel, den Musiker Iggy Pop, Jan Silberstorff und viele, viele andere. Sie alle berichten von seinem enormen Engagement für diese Kampfkunst, dass er jeden Tag zwei Stunden geübt hat, dass er sogar seine Waffen und Videos auf Tourneen mitgenommen hat und manchmal auch seinen Lehrer Ren Guang Yi. Dass er dadurch einen anderen Zugang zu sich und einen anderen Umgang mit seiner Aggression entwickelte. Dass es, mit einem Wort, heilsam für ihn war. Und so wollte er alle, denen er begegnete, davon überzeugen, auch Taijiquan zu üben, und machte viel Werbung dafür.

Auch dieses Buch – von einem der berühmtesten und einflussreichsten Musiker der Welt – ist für die Taiji-Szene eine großartige Werbung. Schade, dass Lou Reed keine Zeit mehr für sein Buch hatte, denn seine wenigen abgedruckten Zeilen sprechen in knappen Worten von einem sehr tiefen Verständnis.

Das vorliegende Buch ist eine Aneinanderreihung von vielen Interviews und Erzählungen, die in hohem Maße redundant sind, denn die meisten erzählen doch das Gleiche. Selten einmal wird versucht klarzumachen, wie die jahrzehntelange Praxis seine Musik beeinflusst hat, denn es ist doch ein weiter Weg von »Walk on the Wild Side« zu »Hudson River Wind Meditations«. Julian Schnabel erzählt: »Lou interessierte sich für spannungsreiche Musik und er interessierte sich für Elektrizität und die Übertragung von Energie von einem Menschen zum anderen und was man damit erreichen konnte. Und ich denke, dass die Tai-Chi-Musik sicher Teil des gleichen Satzes von Gefühlen und Absichten war, die in seinem letzten Werk, ›Lulu‹, zum Ausdruck kommen«.

Hier und an vielen anderen Stellen merkt man auch, wie grausig schlecht die deut- sche Übersetzung ist, als wenn der Google- Translator am Werk gewesen wäre. Jan Silberstorff wird beispielsweise als »erster westlicher Anhänger von Großmeister Chen Xiaowang« bezeichnet, statt als »erster westlicher Schüler«, wie es heißen müsste. Es wäre insgesamt besser gewesen, die Herausgeberin hätte sich auf weniger Beiträge konzentriert und vor allem Lou Reeds Notizen und die Interviews mit ihm klug kommentiert veröffentlicht. So ist das Buch leider doch sehr ermüdend, und man freut sich beim Lesen vor allem auf die Passagen von Lou Reed selbst.