Antoinette Brem/Barbara Lehner:
Shibashi. Ruhe und Achtsamkeit erfahren. Lebensimpulse aus dem Qigong
BoD 2022, 175 S., überarbeitete dritte Auflage, € 17
ISBN 978-3-75574-007-0
Das ist ein überraschendes Buch über eine weit verbreitete Qigong-Form: Shibashi oder auch bekannt als die 18 Taiji-Qigong-Bewegungen. Denn die Übungsreihe gehört zu den jüngeren, nach der chinesischen Kulturrevolution entwickelten Formen, die hauptsächlich als Gesundheitsübung für die Bevölkerung, befreit von vermeintlich spirituellem Ballast, gedacht waren. Eine Tendenz im Umgang mit den tradierten Übungsformen, die 2001 mit dem vom chinesischen Sportministerium entwickelten »Gesundheitsqigong« einen vorläufigen Höhepunkt gefunden hat.
Die beiden Autorinnen aber, die Schweizer Theologinnen und Qigong-Lehrerinnen Antoinette Brem und Barbara Lehner, interessieren sich genau für die tief in die eigene Lebenshaltung hineinreichenden Möglichkeiten, die im Qigong angelegt sind. Und sie finden sie auch im Shibashi.
Das mag auch daran liegen, wo und bei wem sie diese erlernt haben: bei Mary John Mananzan (Manila/Philippinen) und bei der franziskanischen Ordensfrau Marimil Lobregat (Chi Chinese Healing College, Sydney/Australien). Außerdem haben beide Autorinnen als freischaffende Theologinnen einen Arbeitsschwerpunkt in der Trauerbegleitung und Begleitung in Lebensübergängen. Beide nennen ihre Qigong-Praxis und das Shibashi ein »Körpergebet«, einen »Übungsweg zum Sein im Jetzt«, »da wo Worte häufig fehlen«.
So wartet dies Buch – in einer klaren, aber menschenzugewandten und teilweise poetischen Sprache – mit einer ganz anderen Art der Hinleitung zum Qigong auf und mit einer Einladung, die Qigong-Praxis zu einer tiefen Erfahrung werden zu lassen, die uns hilft, das Leben anzunehmen, wie es ist – mit all seinen Wundern und Herausforderungen.
Einerseits wird Qigong ganz alltagspraktisch vorgestellt, als Lebenshilfe. Dafür werden aber auch viele gedankliche Verbindungslinien aufgezeigt in die westliche und die östliche Philosophie sowie Mystik. Sogar Gedichte sind eingebettet, in denen die Autorinnen die schwer in Worte zu fassende Dimension so einer Praxis zugänglich zu machen versuchen. Nun könnte man meinen, dass so ein Buch doch etwas abgehoben sei. Keineswegs. Es soll zum praktischen Erfahren von Ruhe und Achtsamkeit anleiten, so dass Lebensimpulse spürbar werden. Der Praxisteil ist methodisch klug und in kleinen Schritten aufgebaut. Die einzelnen Schritte sind im Allgemeinen so gut beschrieben – was die Übungsausführung wie die innere Ausrichtung betrifft –, dass die Anleitungen tatsächlich eine Hilfe zum Selbstüben sein können.
Nach 16 Seiten allgemeiner Einführung zum Shibashi-Qigong und zur Idee eines Körpergebets beginnt der Übungsteil mit drei Vorübungen: »Mich einfinden – Lebendig werden in Gegensätzen«, »Mich erden – Ankommen im Jetzt« und »Mich mitten – Heimkommen im Wurzelraum des Beckens«. Die Überschriften machen schon deutlich, wie umfassend hier die Grundausrichtungen der Qigong-Haltung verstanden werden.
Dann wird eine Kurzform des Shibashi vorgestellt und für das Üben beschrieben, für die fünf Bilder zu den fünf Jahreszeiten/Wandlungsphasen ausgewählt wurden. Dies war mir im Zusammenhang mit Shibashi neu und ich fand die Zusammenstellung stimmig und inspirierend als Einladung zu liebevoller Selbsterfahrung. Für den Frühling wurde die Bewegung »Auf dem Berggipfel die Brust weit machen« gewählt. Die Überschrift für die innere Haltung lautet: »Mich öffnen – Mein Dasein wagen«. Es folgt der Sommer mit »Die Wolken teilen« und dem Thema »Mich entfalten – Die Freiheit des Herzens entdecken«. Für den Spätsommer spricht das Bild »Ein Boot rudert über den See«: »Mich vertiefen – Im Loslassen in die Fülle wachsen«. Mit »Den Mond anschauen« kommt der Herbst. Ich darf »Mich ausrichten – Himmel und Erde verbinden im Jetzt«. Im Winter soll ich »Mit den Wellen rollen« und darf »Mich lassen – Geborgenheit im Wechsel der Zeiten erfahren«. Als Abschluss des Übens wählen die Autorinnen die Geste »Namaste«:
»Mich einweben – Das Ganze und sein Geheimnis ehren«. Am Ende werden alle 18 Shibashi-Bilder des ersten Sets, mit je einem Foto, kurz beschrieben. Dieser Teil ist wohl eher für schon Praktizierende gedacht.
Wer die spirituelle Dimension der Qigong-Praxis zu schätzen weiß, wird die- ses Buch gern zur Hand nehmen. Und für alle, die Shibashi bisher eher als Übung zur Gesundheitsförderung praktiziert haben, könnte es spannend sein, eine weitere Dimension zu entdecken. Zumal neuere Forschungen belegen, dass Spiritualität positive gesundheitliche Auswirkungen haben kann.