TQJ 04/2003

Rezensent:
Yürgen Oster

Hans-Georg Möller
Laozi – Meister der Spiritualität

Herder Spektrum 2003,  160 Seiten,  EUR 9,90
ISBN 3451050803

Geschichte ist das Ergebnis ständig neuer Schichtung und Umschichtung. Wir legen neue Schichten an und heben alte Schichten wieder hervor. Wie die Karten eines Spiels neu gemischt zu neuen Varianten führen, mit dem gleichen Stock auch nach verschiedenen Regeln gespielt werden kann, wird die Geschichte in allen Epochen nicht nur ergänzt durch neue Ereignisse und Ideen, sie wird auch immer wieder neu umgeschrieben. Manche erhoffen sich vom Neuen mehr Klar-, wenn nicht gar Wahrheit, der Konservative wittert Verrat und Niedergang.
Nun ist es nachgerade Mode geworden, historische Figuren in Frage zu stellen, ihre Lehren als Sammlung von mündlich Überliefertem, erst von späteren Generationen Aufgeschriebenem zu relativieren. Selbstverständlich ist Authentizität von großer Bedeutung, will man in einem Text eine Wahrheit finden, eine „richtige“ Aussage, wie wir sie von einer Gebrauchsanweisung erhoffen. Katastrophal wird es, wenn man solches von Niederschriften wie dem Daodejing erwartet, einem Laozi zugeschrieben, der circa 600 v. u. Z. gelebt haben soll, und uns seit rund 200 Jahren in divergierenden Übersetzungen als Weisheit des Ostens feilgeboten. Hat es diesen Menschen nun gegeben oder ist er nur Legende? Hat er tatsächlich gelebt, ist dann die Schrift von ihm verfasst, wie Brecht in einem schönen Gedicht die Legende nacherzählt, oder ist alles im Laufe von Generationen gewachsen? Ist das wichtig?
Die von Legenden umwobene Geschichte des Laozi Manuskripts Daodejing wird sich nie klären lassen, seine innere Wahrheit nie eindeutig sein.
Es ist unwichtig, ob Laozi eine historische Figur war, ob, wenn ja, er diesen Text aus eigener Erkenntnis schrieb oder ob es sich um eine Sammlung mündlich überlieferten Spruchgutes handelt. Die Geschichte um die Herkunft zu verwirren schafft keine Klarheit. In seiner 1995 erschienen Übersetzung des Daodejing-Textes, den man im Grab von Mawangdui gefunden hat, textet Hans-Georg Möller in Kapitel 15:
Wird, was trüb ist, ruhig gehalten, klärt es allmählich auf.
In seinem neuen Buch vertritt der Professor für Sinologie an der Brock University in Ontario nun auch die Annahme, dass man den Laozi-Text nur als Grabbeigabe aufgeschrieben habe, zum Lesen sei er nicht gedacht gewesen. Natürlich sind die Chancen, in einem über zweitausend Jahre verschütteten Grab antike Seidentücher oder Bambusstäbchen aufzufinden, größer als sonst wo. Dass deshalb die Verse „nur“ für die Verstorbenen aufgeschrieben wurden, ist damit nicht erwiesen. Wenn, wie Möller und andere glauben, die Inhalte sich an die Herrscherkaste richteten, an die Gebildeten im Lande, warum sollen diese sie dann auswendig lernen und nicht aufschreiben, waren sie doch sicher der Schrift kundig. Aber: Ist das wichtig?
Möller braucht all diese Spekulationen, um eine These aufstellen zu können, die er dann nur versuchsweise benutzt, uns damit aber einen Weg zur Erschließung des Daodejing anbietet, der wirklich neu ist. Sein Vergleich mit dem Hypertext, der netzartigen „Verlinkung“ einzelner Kapitel oder auch nur einzelner Passagen, also durch das Daodejing wie im Internet zu surfen, gibt uns Möglichkeiten individueller Auslegungen, individueller Lesarten. Wir können die Karten neu mischen.
Was Möller aus dem Laozi liest, bleibt seine eigene Sache, wir müssen uns ihm nicht anschließen. Wir können seinen Weg verfolgen und seine innere Schlüssigkeit bewundern. So erleben wir altchinesische Denkungsart nicht wie herkömmlich linear, den einzelnen Kapiteln folgend, sondern thematisch sondiert, aber nie aus dem Zusammenhang gerissen. Neben den unverzichtbaren Schlüsselbegriffen „Dao und De „, „Yin und Yang“, „Himmel und Erde“ tastet er den Text nach Leitgedanken wie Sexualität, Gefühle, Krieg und den Tod ab. Dabei offenbart er uns eindringliche Einblicke in eine uns fremde und ferne Denkart. Als Ratgeber müssen wir Laozi sowieso kritisch lesen. Denn auch Wegweiser können in die Irre führen, besonders wenn sie für ganz andere Territorien geschaffen wurden.
Nun stellt Möller nicht nur den historischen Text in neue innere Zusammenhänge, es „gelinkt“ ihm auch eine teilweise globalphilosophische Vernetzung, wenn er Parallelen, aber auch die gerne falsch verstandenen Freundschaften zu modernen Denkern aufzeigt. In seinem letzten Buch „In der Mitte des Kreises“ (Insel Verlag 2001) ist er noch sehr bemüht, daoistisches Denken zu erklären. Im vorliegenden Band schafft er sich – und uns – eine zeitgemäße Freiheit, ohne damit der Vorlage, dem Daodejing, etwas aufzuzwingen, was ihr nicht entspräche.
Sicher, ich würde das Blatt anders ausspielen. Aber das ist ja das Spannende an der Geschichte, es gibt immer mehrere Möglichkeiten. Bei der Lektüre sollte man auf jeden Fall mindestens eine komplette Übersetzung zum Vergleich hinzuziehen.