TQJ 4/2020

Rezensentin:
Dietlind Zimmermann

Laozi:
Dao De Jing
Chinesisch-Deutsche Ausgabe, neu ediert, übersetzt und erläutert von Michael Hammes
Manesse 2019, 478 S. geb., € 22,
ISBN 978 3 7175 2478 6

Der Autor nimmt im Vorwort die Frage voraus: Warum noch eine Übersetzung »eines der meistübersetzten Werke der Weltliteratur«? Nun, weil er – wie viele vor ihm wohl auch – die bisherigen als unzureichend empfindet. Er führt aus, welche Voraussetzungen es seiner Meinung nach für eine ernst zu nehmende Übersetzung braucht. Einerseits ist das eine profunde Kenntnis der altchinesischen Sprache, da diese anders »funktioniert« als die indogermanischen und deshalb nur schwer übersetzbar ist. Deshalb braucht man zusätzlich eine gute Kenntnis der chinesischen Kultur und ein reflektiertes Verhältnis zur eigenen – da sich nur so Missinterpretationen vermeiden und Wege zu einer angemessenen Übertragung eröffnen lassen.

Damit legt Dr. Michael Hammes die Messlatte zunächst intellektuell hoch: Von einem »hermeneutischen Verfahren« spricht der Neurologe, Schmerztherapeut und Arzt für chinesische Medizin, der auch Sprachwissenschaften studierte, um hier angemessen übersetzen zu können. Übersetzungen, die allein aus meditativer Versenkung entstanden seien, hält er zwar für zweifelhaft, doch sind Versenkung, Innenschau und »wuwei« für ihn der zweite, wichtige Zugang.

Für Michael Hammes steht außer Frage, dass das Daodejing ein im besten, grundsätzlichen Sinne esoterisches Buch ist: »Gemeinsames Ziel der philologischen, historischen, philosophischen und intuitiven Annäherung an den Urtext war, ein sowohl authentisches als auch zeitgemäßes Verständnis für den Stoff zu entwickeln. (…) Auch wenn der Text nicht mit Gesellschaftskritik spart und eine äußerst kritische Haltung zur Entwicklung der sogenannten Zivilisation einnimmt, so bleiben die Aussagen im Kern ein Leitfaden der Hygiene für Geist und Seele, der inneren Alchemie.«

Dass es bei der Beschäftigung mit dem Daodejing um Praxis und nicht um verstandesmäßige Aneignung gehen sollte, wird unter anderem im Nachwort deutlich, das neben einer kleinen Einführung in die Kosmologie des alten China einige Praxishinweise enthält (»Praxis des Dao« mit vier kleinen Wahrnehmungs- und Versenkungsübungen). Hier gibt es auch eine Art Zusammenfassung der Leitgedanken des Daodejing in sehr schlichten, einfachen Worten (Die Kernbotschaften, Voraussetzungen auf dem Weg, Grundsätze auf dem Weg). Wem die Verse zunächst zu harte Kost sind, der findet hier einen schönen Fundus für erste Meditationen über den Inhalt – das wäre mein Tipp. Der Hauptteil des hübschen kleinen Hardcoverbuchs enthält die 81 Verse (hier »Eröffnungen« genannt) erst in chinesischen Schriftzeichen, dann in deutscher Übersetzung, gefolgt von jeweils einer wenige Seiten umfassenden fundierten Erläuterung sowohl zur Bedeutung der Schriftzeichen als auch zu einem möglichen Verständnis der Zeilen.

Insgesamt scheint diese Übersetzung etwas sperriger, unserem Sprachgebrauch nicht so angepasst wie manche glättende Nachdichtung oder bewusste Übertragung in unsere Sprache. Doch sehe ich nichts willkürlich Verdunkelndes in diesem Zugriff, sondern finde bei genauerer Betrachtung einen ungeheuer präzisen Einsatz der Sprache. Das passt für mich zum Text: im Dunkel bleibend und doch erhellend. Es bleibt die Aufforderung, einerseits die fremdkulturellen Inhalte nicht vorschnell zu vereinnahmen, andererseits sich nicht mit dem schnellen Verstandeszugriff zufriedenzugeben. Der Text bleibt, wie im Original, eine Einladung zur tiefen Auseinandersetzung und Versenkung. Das Daodejing ist für mich seit je Meditationsanleitung. Mich spricht diese inhaltlich stimmige, mit unserer Sprache, ihren Wörtern, Bedeutungen und Klängen versiert spielende Übersetzung sehr an. Ja – diese Neuübersetzung hat sich gelohnt.