TQJ 4/2018

Rezensent:
Georg Patzer

Franςois Jullien:
Vom Sein zum Leben. Euro-chinesisches Lexikon des Denkens
übersetzt von Erwin Landrichter
Matthes & Seitz 2018, 344 Seiten, € 32
ISBN 978-3-95757-562-3

Wie denken wir? Und wie können wir das ändern? Wie aus unseren festgefahrenen Denk-, Lern- und Erfahrungsmustern aussteigen? »Von den Chinesen lernen, heißt siegen lernen«, hieß es einmal. Nein, so weit will Franςois Jullien, einer der profiliertesten Sinologen Europas, nicht gehen. Und doch. Ihre Begrifflichkeiten sind anders, ihre Ansätze können uns helfen. Unser philosophisches Denken ist ja, trotz Nietzsche, immer noch von Descartes geprägt: »Ich denke, also bin ich.«Das Individuum ist die unveränderliche Größe. Selbst der Satz »ich zweifle« hat im »ich« noch einen unerschütterlichen Mittelpunkt, so dass das Zweifeln eben nicht diesem Ich gilt, sondern den anderen Dingen. Und dieses Ich hat in unse- rer westlichen Philosophie immer auch einen freien Willen. Was aber, wenn es in einer Sprache das Wort »Willen« gar nicht so gibt, wie wir ihn verstehen?

In einem grandiosen Buch stellt Franςois Jullien lexikonartig zwanzig Begriffe einander gegenüber, anhand derer er zwei unterschiedliche Denkweisen miteinader konfrontiert, vergleicht und ineinander zu denken versucht: Neigung stellt er gegen Kausalität, Potenzialität der Situation gegen Initiative des Subjekts, Disponibilität gegen Freiheit, Zuverlässigkeit gegen Aufrichtigkeit, Beharrlichkeit gegen Willen, Reifung gegen Modellierung, stille Verwandlung gegen lautstarkes Ereignis. Geschickt verknüpft er die Kapitel miteinander, führt ein Begriffspaar in das nächste über, so dass sich ein großer Denkkreis ergibt, der bei dem Begriffspaar Ressource gegen Wahrheit endet. Beziehungsweise nicht endet, da sich alles verändert.

Immer wieder bringt der Autor Beispiele, wie Strategen wie Sunzi dieses Denken genutzt haben, das für uns eine einzige große Theorie über Taijiquan und Qigong ist, wenn er über »Neigung« schreibt: »In Termini von Neigung und nicht mehr jenen von Kausalität zu denken, heißt nicht nur, das Regime von Explikation zugunsten eines Regimes der Implikation zu verlassen oder auch von einer externen zu einer internen Begründung überzugehen, die sich als Immanenz versteht, sondern lässt uns, im weitesten Sinn, von der Klarheit durch ein ›Abkoppeln‹ (der Elemente) und ›Entkoppeln‹ (der Gegenteile), jener des Seins und seiner Konstruktion, in die Logik des zugleich Stufenlosen und auch Korrelieren- den und insofern unendlich im Prozesshaften Verschränkten hineinkippen.« Denn Neigung ist auch, wie wir im Taijiquan kämpfen: Zu erkennen, wie sich unser Gegner bewegt, verändert, wie er sich »neigt«.

Aber auch darüber hinaus kann dieses Buch für das Denken befreiend wirken, denn es zeigt andere Möglichkeiten auf, wie wir die Welt nicht als »Seiendes«, mithin als Festes wahrnehmen und den- ken können, sondern als »unendlich im prozesshaften Verschränkten« befindlich, etwas Kippendes, in das wir auch hineinkippen und mit dem wir mitkippen könen. Und nicht nur entweder das eine oder das andere sehen, sondern erkennen, »wie die Entwicklung also nicht nur in der Konfiguration enthalten ist, sondern eins mit ihr ist und in ihr aufgeht«. Der chinesische Begriff »shi«, der oft mit »Willen« übersetzt wird, heißt auch Situation, Evolution, Bedingung und Verlauf.

Ich könnte seitenweise aus diesem Buch zitieren, fast jeder Satz ist erhellend und erleuchtend, trifft den Kern des Taijiquan – und Franςois Jullien hat keine Ahnung von Taijiquan oder Qigong, erwähnt diese nicht einmal. Umso passender.