Henry Johannes Greten:
Heilen mit der Intelligenz des Körpers. Das Beste aus chinesischer Heilkunst und westlicher Medizin
Ludwig 2022, 288 S. geb., € 22, ISBN 978-3-453-28104-2
Die meisten TCM-Bücher setzen eigentlich darauf, dass man ihnen glaubt. Sie stellen das System zwar (oft) richtig dar, erklären die »Elemente«, die Leitbahnen, die Funktionskreise, die »orbis« (die fast alle mit den Organen verwechseln), das Qi. Aber kaum eins bietet auch eine wissenschaftliche Grundlage dafür, ganz zu schweigen von einer vernünftigen Definition für Qi, dessen häufigste Eindeutschung als Lebensenergie oder »universelle Lebensenergie« ja genauso wenig aussagt.
Wie gut, dass Henry Johannes Greten jetzt nach seinem Standardwerk für Fach- leute auch ein Buch für Laien geschrieben hat, in dem er die chinesische Medizin präzise und wissenschaftlich erklärt. Für ihn ist das wichtig, damit wir sie nicht mehr mystifizieren, sondern als eine Wissenschaft verstehen, die den Fokus nur woanders hat, auf der Befindlichkeit statt auf Befunden. Gleichzeitig betont er auch immer den Wert der westlichen Medizin.
Aber was im Chinesischen vielleicht »Wind in der Leber« oder »Leere-Feuer« heißt, hat eben auch eine westliche Entsprechung, und der Heidelberger Arzt ist in der einmaligen Lage, eine westliche Diagnose in eine chinesische übersetzen zu können und umgekehrt, so dass aus der blumigen Sprache eine wissenschaftliche wird, in der Sympathikus und Parasympathikus, Endorphine, Cortisol und so weiter eine Rolle spielen. Aber eben nicht als einzeln messbare Einheiten, sondern im Zusammenspiel: »Es ist bislang in der Praxis der Medizin technisch unmöglich, diesen Gesamtklang der Transmitter und Hormone mit Einzelmessungen zu erfassen.«
Weshalb die Laboruntersuchungen häufig wenig mit den Beschwerden der Patient*innen übereinstimmen. Und weshalb die chinesische Medizin sich mehr auf die Befindlichkeit stützt und weniger auf die Befunde. Zudem, ein Beispiel von vielen in diesem Buch, sagt ein Messwert, zum Beispiel die Temperatur, nicht aus, wohin er sich entwickelt, ob er grade am Aufsteigen oder am Sinken ist.
Henry Johannes Greten entwickelt aus der Naturbeobachtung der chinesischen Tradition Yin und Yang, die Sinuskurve der Wandlungsphasen, die Regulation der Funktionen und die Körperregionen im Leibesinneren, »die während der Wandlungsphasen symptomatisch werden«. Er erklärt gut lesbar, manchmal plauderig und genau das chinesische Weltbild, das die Voraussetzung für die Entwicklung der chinesischen Medizin war, »aber nicht Bedingung für die Anwendung« ist. Weswegen sie auch nicht auf den chinesischen Kulturkreis beschränkt ist – man muss sie halt in das westliche Denken und die westlichen Sprachgewohnheiten übersetzen.
Sehr schön ist, dass Henry Johannes Greten auf die Gefühlswelt des Menschen eingeht. Er hat dafür das Bild des »inneren Klangs«, der zur Harmonie kommen will, wie »die vier Stimmen in einem Streichquartett«, in dem man in einer »individuellen Abmischung« alle vier Instrumente hört. Für die Harmonie, »die Kraft zur Selbstheilung«, sollen idealerweise »die Kräfte der Wandlungsphasen Holz und Metall – etwa die Konflikt- und Kompromissbereitschaft, ebenso die Tendenz zu Tiefenzorn und Tiefenschmerz – ausgeglichen sein«. Statt »Krankheit als Weg« postuliert er »Heilung als Weg – über das Symptom zur emotionalen Balance und zum Wiederfinden des Lebenswegs«. Was fehlt, sind die vom Autor immer wieder gepriesenen Qigong-Übungen. Dennoch: Dieses Buch sollte wirklich ebenso ein Standardwerk werden wie sein Fachbuch.