Michael DeMarco, Herausgeber des legendären »Journal of Martial Arts«, das leider vor einigen Jahren eingestellt wurde, nimmt uns in diesem Buch mit auf eine Reise in das China des 18. Jahrhunderts. Sie beginnt mit einer Entdeckung im Juni 2000. Zwei Studenten aus Macao, die zu einem einjährigen Studienaufenthalt über die Jesuiten in China in den Vatikan gereist waren, finden in der dortigen Bibliothek einen Ordner mit Aufzeichnungen in Chinesisch unter Dokumenten, die Giuseppe Castiglione gehörten. Unter diesen Aufzeichnungen, die in einer anderen Handschrift als der von Castiglione verfasst waren, gab es auch einen Text zu den Kampfkünsten, der in 64 Kapiteln gegliedert war.
Giuseppe Castiglione (1688 – 1766) war einer der bekanntesten Jesuiten in China. Er nahm den Namen Lang Shining an und war über 50 Jahre am Kaiserhof in Beijing Maler und Architekt, der auch heute noch in China hoch angesehen ist. Er entwickelte den Qing-Hofstil, in dem Elemente der chinesischen und der europäischen Malerei zu einem eigenständigen Stil zusammenflossen, und gestaltete auch Teile des Gartens des Sommerpalastes.
Die Studenten fanden heraus, dass dieser Text von Yang Mingbin (etwa 1664 – 1765) stammte, einem passionierten Kampfkünstler aus dem Dorf Song in Henan, der auch Maler am Kaiserhof war und ein guter Freund von Giuseppe Castiglione wurde.
In den 64 Kapitel beschreibt Yang Mingbin alle Aspekte, die für chinesische Kampfkünste wichtig sind. Die Beschreibungen sind klar, anschaulich und kommen schnell »auf den Punkt«. Dabei geht es nicht nur um die bio-mechanischen und energetischen Prinzipien, die natürlich für die Kampfkünste von großer Bedeutung sind, sondern sie zeigen auch immer wieder Verbindungen zum Buddhismus, Daoismus und Konfuzianismus auf sowie zu anderen Künsten (Musik, Malerei, Architektur, Kalligraphie, Meditation), zur Natur und zur Gesundheit. Und hin und wieder gibt es auch praktische Beispiele.
Beim Lesen dieser sehr gelungenen Kapitel fiel mir auf, dass dieser Text unmöglich von einem Chinesen stammen kann. Der Duktus war doch zu westlich, auch wenn Yang Mingbin durch seine Freundschaft zu Castiglione viel »Westliches« kennengelernt haben mag. Nein, Yang Mingbin und seine Manuskripte sind eine Fiktion, was deren Inhalt allerdings keinen Abbruch tut.
So ist Michael DeMarco nicht nur ein sehr guter »Rundum-Überblick« über die Aspekte der Kampfkünste Chinas gelungen, sondern er hat sie auch in eine Geschichte eingebunden, die er in seinem neunseitigen Vorwort erzählt und darin Realität und Fiktion miteinander verwebt. Eine so umfangreiche, kompetente und gut zu lesende Darstellung habe ich bislang noch nicht gesehen. Es ist allerdings schon etwas schade, dass sie auf Englisch ist.
Und wie kam Michael DeMarco an den Text von Yang Mingbin? Der Vatikan gab das Manuskript der Familie von Yang Mingbin zurück, und überreichte es Yang Qingyu, dem Sohn von Yang Yingyin, der wiederum der letzte bekannte Nachkommen dieser Yang-Familie in dem Dorf Song war. Kurz vor seinem Tod 2002 übergab dieser es seinem Nachfolger Huang Jingjie, der es dann ins Englische übersetzte. Übrigens: Yang Qingyu war der Yang-Stil Lehrer von Michael DeMarco.