Nabil Ranné:
»Die Wiege des Taijiquan. Der soziokulturelle Kontext der chinesischen Kampfkunsttheorie mitsamt einer Analyse der ältesten Bewegungsformen des Taijiquan«
Logos 2011, ISBN 978-3-8325-2477-7
340 Seiten, 39 EUR
Nabil Rannè hat am sportwissenschaftlichen Institut der Universität Hamburg über die Entwicklungsgeschichte des Taijiquan promoviert und seine Doktorarbeit liegt nun auch öffentlich zugänglich vor. Wie es wissenschaftliche Arbeiten so an sich haben, ist dies keine ganz einfache Lektüre und die winzige Schrift trägt zusätzlich dazu bei, das Lesen zu erschweren. Nichtsdestotrotz lohnt sich die Mühe für alle, die sich für die Geschichte des Taijiquan interessieren, und sie werden hier eine ungeheure Fülle an Informationen in gut strukturierter Form vorfinden.
Auch wenn der Schwerpunkt klar beim Chen-Stil Taijiquan liegt, ist der umfangreiche erste Teil, »Die Entwicklung des Taijiquan innerhalb der chinesischen Kampfkünste«, der abschnittsweise von den Anfängen chinesischer Kampf- und Bewegungskunst bis ins 20. Jahrhundert führt, für alle bekannteren Familienstile relevant. Hier geht es nicht allein um die Rekonstruktion der Entwicklungsgeschichte einer einzelnen Kampfkunst, sondern der Autor analysiert die verschiedenen Wurzeln der chinesischen Kampfkünste in einer gesellschaftshistorischen Perspektive, die zum Beispiel erklärt, dass die heute übliche Einteilung in »innere« und »äußere« Kampfkünste sich ursprünglich nicht auf unterschiedliche Charakteristika bezog und eher ein ausgeglichenes Verhältnis von inneren und äußeren Techniken angestrebt wurde.
Im zweiten Teil untersucht der Autor auf der Basis der geschichtlichen Entwicklung die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen alten Formen der Chen-Familie und der Form des berühmten Generals Qi Jiguan, Formen der »Inneren Schule« von Wang Zhengnan, der Handform von Chang Naizhou sowie anderen Stilen. Dabei werden, soweit vorhanden, sowohl die Namen der einzelnen Figuren als auch überlieferte Merkverse und Abbildungen verglichen. Die Untersuchung macht deutlich, dass es zahlreiche Überschneidungen gibt, und deutet auf eine stilübergreifende Entwicklung von Kampfkunst- und Bewegungsprinzipien hin.
Hier kommt der seltene Glücksfall zum Tragen, dass ein Sportwissenschaftler nicht nur über langjährige und intensive praktische Erfahrungen im Taijiquan verfügt, sondern auch selbst Chinesisch lesen und sprechen kann und somit Zugang zu den chinesischen Originalquellen hat. Natürlich kann auch er nicht alle Fragen beantworten, dazu reicht die Quellenlage bei Weitem nicht aus, und manche Bereiche, wie etwa der Bezug zur Taijiquan-Tradition in daoistischen Klöstern, bleiben offen. Trotzdem finden wir hier den meines Wissens umfassendsten Überblick in deutscher Sprache über die verschiedenen Einflüsse, die zur Entstehung des Taijiquan sowie seiner weiteren Entwicklung beigetragen haben.
Dem Werk ist zu wünschen, dass es noch einmal in einer etwas gestrafften und dafür ansprechender gestalteten Form erscheinen und dann sicherlich eine größere Leserschaft finden wird.