TQJ 2/2019

Rezensentin:
Dietlind Zimmermann

Loretta Wollering:
Die Anatomie des Tai Chi. 45 Übungen für Körper und Geist
Libero 2018, 192 Seiten TB, € 9,95
ISBN 978-94-6359-125-6

In den USA ist Loretta Wollering laut Autorenangaben eine bekannte Taiji- quan-Lehrerin, die seit über 20 Jahren unterrichtet und dem Kampfkunstaspekt besondere Aufmerksamkeit schenkt. Im Buch stellt sie die 24er Yang-Stil-Form vor sowie einige Bewegungen aus dem Chen-Stil (neuer Rahmen Kanonenfaust). Alle Haltungen der Taijiquan-Bilder werden auf Fotos dargestellt, die die Autorin in der (End-)Position zeigen, sowie parallel in gleicher Größe durch eine Illustration, die der Figurine, wie in Anatomie-Atlanten üblich, unter die Haut schaut und dort die Muskelgruppen farbig hervorhebt, die nach Meinung der Autorin bei dieser Bewegung trainiert werden. Das ist optisch hübsch und mal was Neues auf dem Markt der Taiji-Bücher. Aber ich komme nicht umhin, mich zu fragen, wie sinnvoll das ist und ob das nicht eher ein kluger Marketing-Schachzug ist, um einem weiteren, allgemein ins Taijiquan einführenden Buch mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen.

Die Autorin begründet dies so: »Dieses Buch stellt eine körperbetonte Herangehensweise an die Lehre des Tai Chi Chuan vor – der Fokus liegt auf den Gelenken und Muskeln. Tai Chi ist eine kinästhetische und nicht nur eine geistige Lehre. Man verliert sich leicht in der Philosophie und der Energiearbeit des Tai Chi und vergisst, dass diese Aspekte nur wirksam sind, wenn sie durch den Körper ausgedrückt werden.« Dem kann ich mühelos zustimmen, wie wohl jede und jeder ernstlich Praktizierende. Doch suggeriert mir dieses Buch zu sehr, dass es um Muskelkraft oder Muskelaufbau beim Taiji geht. Der findet in gewissem Maße bei einem ausgeglichenen Training natürlich statt und eine tonische Gesamtmuskulatur ist für gesunde Haltung und Bewegung notwendig. Doch kommt meiner Meinung nach die Kraftentwicklung beim Taijiquan aus anderen Räumen als isolierter Muskelkraft. Zumindest bei der Entwicklung der sogenannten inneren Kraft – die in diesem Buch allerdings kaum Erwähnung findet – spielt der Gesamtkontext des faszialen Gewebes (der die Muskeln einbezieht) in Abstimmung mit der Einwirkung der Schwerkraft und den einwirkenden Kräften eines Angreifers die entscheidende Rolle. Die Faszien sind in den letzten Jahren erfreulicherweise mehr in den Fokus der Forschung gekommen, entsprechend erscheint mir die Fixierung auf die Muskeln doch ein wenig »old school« und zudem kurz gegriffen.

Dennoch ist dies ein gut gemachtes Buch für Taijiquan-Anfänger*innen. Viele Aspekte des Übens sind klar und prägnant zusammengefasst. Der Text liest sich immer ermutigend und anregend für das eigene Üben, es gibt viele Querverweise und Hintergrundinformationen und alles ist optisch gut aufbereitet. Die Sprache ist klar und deutlich darauf abgestellt, Anfänger*innen gut zu instruieren. Das geht von einer kurzen Einweisung »Was ist Tai Chi Chuan?« über einzelne Kapitel zu »Tai Chi und Gesundheit«, »Tai Chi zu Hause«, Tai Chi im Freien«, Tai Chi und Ernährung« zu einzelnen Aspekten der Übungspraxis: »Das Dantian«, »Beinarbeit und Gesten«, Tai-Chi-Praxis für Sie«, »Muskelaufbau des Körpers«. Die Kapitel sind inhaltlich kenntnisreich, hier tauchen die Themen persönliche Entwicklung, Energiearbeit und Spiritualität als Einsprengsel auch auf.

Unter der Überschrift »Praxis unterstützen« gibt es am Ende auch noch Hinweise zu »Atemübungen«, »Tai Chi im Alltag« und »Tai Chi bei Schmerzen«. Da dies offensichtlich ein Buch sein soll, nach dem Menschen Tai Chi erlernen können sollen (was man grundsätzlich anzweifeln kann), hat die Autorin sich viel Mühe gegeben, Bewegungen genau zu beschreiben, Warnhinweise für mögliche Fehler zu geben und insgesamt möglichst viel Anregungen und Tipps zu geben. Ich habe schon weniger gute Bücher gesehen, die einen Zugang zum Taijiquan eröffnen wollen.