TQJ 3/2019

Rezensent:
Helmut Oberlack

Karsten Kalweit:
Tai Chi. Das komplette Trainingsbuch
Meyer & Meyer 2017, 472 Seiten TB, € 38 (D), € 39,10 (A), als E-Book € 29,99
ISBN 9783840375637

»Das komplette Trainingsbuch« – dieser Untertitel machte mich natürlich neu- gierig, denn Taijiquan ist so umfangreich, dass es meines Erachtens unmöglich ist, ein komplettes Buch darüber zu schreiben. Karsten Kalweit stellt im Vorwort klar, was er unter »komplett« versteht: Er wollte ein Lehrbuch schreiben, das Taijiquan in allen seinen Ausprägungen (Qigong, Hand- und Waffenformen, Anwendungen und Tuishou) zeigt, Fortgeschrittenen gefällt und Grundlegendes so erklärt, dass Anfänger*innen damit arbeiten können.

Es beginnt mit einer kurzen Einführung, was Taijiquan eigentlich ist. Der Autor sieht Taijiquan grundsätzlich als Kampfkunst, so hat er es – mit seiner Kampfkunsthistorie (unter anderem Ju-Jutsu, Eskrima) – kennengelernt. Kurz und gut geht er in diesem Kapitel auf den Unter- schied von inneren und äußeren Stilen ein – wobei er dem Taijiquan innerhalb der inneren Stile eine gewisse Sonderstellung zuweist, da es über Qigong mit der TCM enger verknüpft sei – und spricht die positiven Wirkungen des Taiji-Trainings an. Irritiert hat mich sein Hinweis auf die Benennung der Figuren. In modernen Stilen seien die Namen nur eine Zusammenfassung der Bewegung wie zum Beispiel »Der rechte Fersenstoß«, bei den älteren Formen würden noch poetische Namen dazukommen wie zum Beispiel »Die Mähne des Wildpferds teilen«. Vielleicht mag das bei den neuen Waffenformen gelten, aber »Die Mähne des Wildpferdes teilen« und andere traditionelle, poetische Namen kommen auch in den modernen Kurzformen vor. Zweifelhaft finde ich auch seine Einteilung der Taiji-Stile in großen (Chen und Yang), mittleren (Wu) und kleinen (Sun und Wu/Hao) Rahmen, wo es doch zumindest innerhalb des Yang- und Chen- Stils verschiedene Rahmen gibt.

Das folgende Kapitel behandelt die Grundlagen, wobei er den Yang- und den Sun-Stil in den Mittelpunkt stellt: Stellungen, grundlegende Bewegungen, allgemeine Prinzipien und Ausrüstung. Hier wird eine große Stärke des Buches deutlich: die ausführliche Bebilderung mit großen Fotos, die zusammen mit den Bewegungsbeschreibungen das Nachmachen der Schritte und Drehungen leicht machen. Leider bleiben die Beschreibungen überwiegend auf der äußeren Ebene wie Gewicht verlagern oder Fußspitze nach innen drehen. Und ich wundere mich über seine Bemerkung, dass das unbelastete Bein in der Regel dasjenige sei, welches den Schritt oder die Drehung einleiten würde. Das ginge ja nur, wenn die Beinbewegung unabhängig von einer Bewegung des Rumpfes erfolgt, was den Taiji-Prinzipien widersprechen würde.

Der Teil mit den allgemeinen Prinzipien ist recht knapp. Karsten Kalweit erwähnt kurz das »Kraftübertragungssystem« des Taijiquan, das man sich beim Üben ver- gegenwärtigen soll. Eine Technik starte stets vom hinteren Bein und setze sich kettenartig über den Rumpf bis in die Arme fort. Das ist allerdings sehr verein- facht dargestellt und wird der komplexen Bewegungsdynamik des Taijiquan nicht gerecht. Und auch der letzte Punkt in diesem Kapitel ist unverständlich. Er postuliert, dass viele Taiji-Meister uneins seien, wieviel Kraftaufwand beziehungsweise Entspannung bei den Bewegungen erfolgen soll. Er würde nicht total entspannen und Körper und Arme schlaff hängen lassen, »wie man es oft beobachtet«, sondern zwar maximal entspannen und trotzdem die nötige Spannkraft für die Figur haben. In diesem Punkt sind sich doch alle Taiji-Lehrenden einig.

In der Einleitung zum Kapitel über Qigong unterscheidet Karsten Kalweit zwischen Medizinischem Qigong zum Reagieren auf gesundheitliche Probleme oder zur Prophylaxe und dem Qigong für den Kampfsport, bei dem man das Qi kultiviert, um es letztlich im Kampf nutzen zu können. Dazu gehört auch, die korrekte Atmung mit den Bewegungen zu koordinieren. Er zeigt drei Sets, je eins aus dem Yang-, Wu- und Sun-Stil, die naturgemäß der Intensivierung des Taiji-Trainings dienen. Es sind recht einfache Bewegungen, die teils aus Taiji-Figuren entlehnt wurden. Die Bebilderung ist wieder sehr gut, die Beschreibung überwiegend äußerlich, immer verbunden mit der Ein- und Ausatmung.

Dann beginnt der große Teil des Buches, wo dessen Stärken zum Tragen kommen: die Beschreibung von Formen. Es geht los mit einem Kapitel zum Tuishou, in dem zahlreiche Übungen (einhändig, beidhändig, vertikale und horizontale Kreise, mit und ohne Schritte) vorgestellt werden. Es folgen die »40 Figuren Wettkampfform« des Yang-Stils und die »73 Figuren Wettkampfform« des Sun-Stils, jeweils mit einer kurzen Beschreibung von Grundlagen und anschließenden Anwendungsbeispielen. Gleiches gilt für die »13 Figuren Säbelform« und die »32 Figuren Schwertform« des Yang-Stils. Alle diese Formen sind super bebildert und auf der äußerlichen Bewegungsebene gut beschrieben. Hier merkt man die große Kampfkunsterfahrung des Autors und seine Freude an Formen. Natürlich braucht es einige Erfahrung, um diese und vor allem die Partnerübungen nach- vollziehen zu können. Eine schöne Hilfe dafür sind die Links zu Videos mit diesen vier Formen, vorgeführt von Karsten Kalweit.

Fazit: Ist das Buch komplett? Qigong, Formen, Anwendungen und Tuishou werden beschrieben. Aber die Beschreibungen bleiben an der Oberfläche. Wer Bewegungsabläufe lernen möchte, liegt mit diesem Buch richtig. Mir fehlen Informationen zu den Grundlagen des Taijiquan wie Körperhaltung oder Bewegungsprinzipien. Aber ich habe großen Respekt vor der vielen Arbeit, die Karsten Kalweit in dieses Buch investiert hat.