TQJ 02/2015

Rezensentin:
Dietlind Zimmermann

Frieder Anders:
Wie ich lernte, den Drachen zu reiten. Heldenreise eines Taiji-Meisters in Ost und West

Theseus 2014, 317 Seiten, 19,95 EUR
ISBN 978-3899018752

Frieder Anders gehört zu den Pionieren des Taijiquan in Deutschland. 1980 eröffnete er seine erste Taiji-Schule in Frankfurt am Main. Er war von 1988 bis 2005 Meisterschüler von Chu Kinghung und vertrat dessen Yang-Stil in Deutschland. Dann kam es zur Trennung und der Autor entdeckte seinen eigenen Zugang zum Taijiquan und dessen Tradition. In mehreren Artikeln und Büchern beschrieb er in den letzten Jahren das von ihm entwickelte Atemtyp-Taiji und -Qigong.

Sein neues Buch ist eine Art Autobiographie. Es verbindet auf interessante Weise den persönlichen Lebens- und Entwicklungsweg von Frieder Anders mit seiner Entwicklung als Taijiquan-Lernender und -Lehrender. Außerdem verknüpft der Autor die unseren Übungskünsten zugrunde liegende östliche Perspektive auf Persönlichkeitsentwicklung mit einer westlich-psychologischen.
Für die Deutung seines eigenen Wegs hat sich Frieder Anders das analytische Konzept des Arztes und Tiefenpsychologen Erich Neumann (1906 – 1960) zu eigen gemacht. Es beschreibt den (wie mir scheint sehr männlichen) Initiationsweg des Menschen als zu bestehenden »Heldenkampf«. Es geht um die »Befreiung aus dem uroboischen Inzest«. Das Bildsymbol des Urobos ziert das Cover: Der Drache (oder die Schlange), der sich selbst in den Schwanz beißt.

Dabei geht es um die Annahme unbewusster Anteile, um die Befreiung von der kindlichen Verstrickung mit Mutter wie Vater, da das Loslösen Voraussetzung dafür ist, die eigene innere Stärke zu finden, Voraussetzung auch dafür, Verantwortung für Freud wie Leid im eigenen Leben übernehmen zu können. Und – jetzt kommt die spannende Parallele zur inneren Kampfkunst Taijiquan: Nach Frieder Anders erwächst erst hieraus die Fähigkeit, Kämpfe zu bestehen ohne Gewalt anzuwenden. So lerne man den Drachen zu reiten, statt ihn zu erschlagen.

Wer daran interessiert ist, wie man mit so einem tiefenpsychologischen Modell ein ganzes Leben deuten kann, findet hier viel Material. Wer etwas über das Atemtyp-Taiji erfahren will, findet auch einiges. Wer einen sehr persönlichen Blick auf einen »Taiji-Meister« erhaschen will: Hier bekommt er ihn.
Damit sind wir bei dem Anteil des Buchs, den ich für einen Gewinn für unsere Szene halte. Frieder Anders schildert seinen Weg sehr offen, ja, man könnte sagen, schonungslos, seziert seine eigene Lebens- und Liebesfähigkeit. Und auch wenn man hier und da meint, Rechtfertigungen herauslesen zu können (warum es zum Beispiel zur Trennung mit Meis-
ter Chu kam), so bietet dies Buch weit mehr als eine Art persönlicher Nabelschau. Denn wir alle wissen, wie heikel die Glorifizierung von Taiji- und Qigong-Unterrichtenden zu »Meistern« ist. Sei es, dass diese sie selbst betreiben oder dass ihre Schüler sie idealisierend überhöhen, um sich selbst in diesem Glanz sonnen zu können. Und wir wissen, dass solche Verklärungen Einlasspforten für missbräuchlichen Umgang zwischen Lehrenden und Lernenden bilden können.

Deshalb halte ich es für ein Verdienst von Frieder Anders, dass er seinen LeserInnen deutlich vor Augen führt: Auch Meister sind in erster Linie Menschen. Gerade wenn sie Taijiquan oder Qigong als Entwicklungsweg ernst nehmen, dürfen wir davon ausgehen, dass sie selbst nicht am Ziel, sondern auf dem Weg sind. Und das heißt: Sie beginnen ihren Weg – wie wir alle – mit einer Menge Gepäck, vor allem auch psychischem Gepäck. Wenn es gut läuft, werden sie mit ihrer Taiji-Praxis wachsen, sie werden sich als Menschen immer mehr entfalten, ihrem »wahren Wesen« näher kommen. So wie ihr Verständnis vom Taijiquan oder Qigong sukzessive immer tiefer werden wird.
Der Schriftsteller Martin Walser schrieb einmal über Schauspieler, sie seien bloß »besonders typische Menschen«. Dieses Buch enthält die Botschaft: Taiji-Meister sind einfach nur besonders typische Taiji-Übende. Danke, Frieder Anders. Ich hoffe, dass viele diese Botschaft hören.