TQJ 4/2019

Rezensent:
Epi van de Pol

Dr. Christian Unverzagt:
Die Klassischen Schriften des Taijiquan. Theorie – Praxis – Kulturgeschichte
BoD 2019, 280 Seiten, TB, € 22,99,
ISBN 978-3743149410

Das Wunder ist geschehen: endlich eine sehr gute Übersetzung der »Klassischen Schriften« aus dem Chinesischen in die deutsche Sprache. Die meisten deutschen Bücher über die Klassiker, die ich kenne, sind Übersetzungen aus dem Englischen, wie beispielsweise das speziell schön gefaltete Buch von Jürgen Licht und Hella Ebels Übersetzung des ersten Buches von Wee Kee Jin. Direkte Übersetzungen gab es von Martin Boedicker in seinem »Tai Chi-Klassiker Lesebuch«, wobei er diese leider nur auf 20 Seiten diskutiert (die Seite über Yao: »Hüfte oder Taille?« war für mich das Interessanteste), und von Rainer Landmann in »Taijiquan Konzepte und Prinzipien«, das ich aber nie wirklich studiert hatte, weil es mir damals zu theoretisch vorkam. Song Zhijian spendiert leider nur zehn Seiten für die klassischen Texte und bringt in dieser Hinsicht weiter keine Vertiefung. Christian Unverzagts Buch trägt auf 280 Seiten sehr viel zur Vertiefung bei.

Dr. Christian Unverzagt, ein alter Bekannter in der Taijiquan-Welt, hat als Philosoph und Ostasienkenner die Klassschen Schriften übersetzt und kommentiert. Er benutzt dabei, was alte Meister und andere Autoren über diese Texte geschrieben haben, aber auch seine eigenen nicht geringen Erfahrungen und Einsichten. Zuerst gefällt mir sehr, dass er jedes Lied nach Zusammenhängen unterteilt. So geht es etwa in Zeile 1 bis 4 vom zweiten Lied um chinesische kosmologische Grundlagen, in Zeile 5 bis 7 um Fehler in der Körperstruktur und so weiter. In seiner Besprechung dieser zusammenhängenden Sätze verweist er auf andere ähnliche Sätze in anderen Liedern. Für mich funktioniert dies gut und das alles auf 140 Seiten, die Übersetzung der fünf Klassischen Schriften nimmt nur zehn Seiten ein.

Diffuse, aber essentielle Begriffe wie Qi, Xin, Shen, Li, Kleben, Folgen … werden in einem Anhang von 51 Seiten auch für mich sehr interessant besprochen. Im Sachregister und im Personenregister kann fast alles nachgeschlagen werden. Das Literaturverzeichnis von zehn Seiten gibt Anregung weiterzulesen.

Diese Arbeit ist in der wissenschaftlichen Tradition geschrieben. Auf den ersten Blick war mein Eindruck, dass seine Stärke auch seine Schwäche sein würde, denn die meisten Wissenschaftsbücher sind schwierig zu lesen. Christian Unverzagts Buch aber ist überhaupt nicht schwierig zu lesen oder zu verstehen. 26 Seiten Anmerkungen machen nachvollziehbar, worauf Christian sich in seinen Kommentaren stützt. Man kann ein ganzes Kapitel lesen oder nur einen bestimmten Teil, zum Beipiel Xin/Herz im Sachregister nachschlagen und dann die 31 Seitenreferenzen dazu lesen.

Ich war gespannt, wie Christian Unverzagt einen Begriff wie »doppelte Schwere« (shuangzhong) aus dem Lied von Wang Zongyue besprechen würde. Denn in der Vergangenheit war die Haupterklärung, dass man sein Gewicht nicht auf beide Beine gleich verteilen soll. Für mich ist »doppelte Schwere« Kraft mit Kraft beantworten, was die 16 Sätze in dem Lied von Wang Zongyue viel besser erklären. Im Sachregister stehen neun Referenzen für »Doppelte Schwere« und ich war sehr glücklich zu lesen, dass Christian Unverzagt diesen Begriff beispielsweise mit »Volles« und »Leeres« und »dem andern folgen« kommentiert und auch noch dazu sagt, dass »shuangzhong« wörtlich übersetzt tatsächlich doppelte Gewichtsverteilung bedeutet, aber auch als Dopelung verstanden werden kann.

Die klassischen Schriften sind von ihrer Natur aus natürlich rätselhaft und auch Christian Unverzagt schafft es nicht, alles zu erklären, betont das auch und freut sich über andere Meinungen. Es ist sogar unklar, ob die Klassischen Schriften oder Lieder wirklich aus der Taijiquan-Tradition kommen. Trotzdem sind sie die Grundlage von allen Taijiquan-Stilen. Man nimmt an, dass diese Lieder früher gesungen wurden, um die wichtigen Punkte im Kopf zu behalten. Andere sagen, dass es geheime Notizen waren, die von Generation zu Generation überliefert wurden.

Christian Unverzagt geht nur ganz kurz auf ihre historische Entwicklung ein, weil das Buch sonst zu dick geworden wäre. Vielleicht kommt noch ein zweiter Teil mit Erzählungen zur Geschichte dieser alten Lieder (kleiner Tipp).

Eine kritische Notiz: Die Beschichtung des Covers löst sich leider ein bisschen ab. Das Buch selbst ist gut gebunden. Zusammenfassend würde ich sagen, dass Christian Unverzagt das bisher beste deutschsprachige Buch über die Klassischen Schriften produziert hat, das jede*r Taijiquan-Übende neben dem Bett haben muss, so dass diese alten Texte mit in den Schlaf und die Träume genommen werden können.