TQJ 02/2013

Rezensent:
Frank Aichlseder

»Laozi‘s Dao De Jing«
übersetzt von Richard Wilhelm und kommentiert von Meister Jan Silberstorff
Band 1 – Dao Lotus Press 2012, 356 Seiten geb., 36 EUR,
ISBN 978-3935367035

Wenn ein Meister einen Klassiker der Weltliteratur kommentiert und dieses Buch bereits von Außen so schön gebunden und hochwertig aussehend daherkommt, dann sind die Erwartungen hoch. Wenn der Meister und Kommentator Jan Silberstorff heißt, dann zeugen seine bisherigen Veröffentlichungen von seiner Klasse und seinem tiefen Verständnis des Taijiquan. Und wenn es sich bei dem Klassiker der Weltliteratur um Laozis Daodejing handelt, dann tritt das neue Buch von Jan Silberstorff in Konkurrenz zu einer Vielzahl von Veröffentlichungen weltweit. Da stellen sich zwei Fragen. Ers-tens: Warum ein weiterer Kommentar zu diesem hinlänglich übersetzten und auch kommentierten, interpretierten und gedeuteten Werk? Und zweitens: Was unterscheidet diesen Kommentar von den anderen?
Nun, die Antworten sind zum einen schnell gefunden und zeigen sich zum anderen doch erst nach längerem Studium des Kommentars.

Jan Silberstorff widmet sich in diesem ersten Band dem Teil »Dao«, das sind die ersten 37 Verse. Band 2 mit den restlichen Versen ist bereits angekündigt. Nach einer kurzen Einführung in das Thema Lao-zi und das Daodejing beginnt der Kommentar. Hier zeigt sich bereits optisch, dass sich bei der Gestaltung des Buches sehr viel Mühe gegeben wurde. Jeder Vers ist in chinesischen Schriftzeichen abgedruckt und auf der gegenüberliegenden Seite steht die Wilhelmsche Übersetzung. Danach folgt der Kommentar von Jan Silberstorff, in dem er sich Zeile für Zeile vornimmt und sie – und das macht diesen Kommentar so besonders – aus der Sicht eines Taijiquan-Praktizierenden deutet, interpretiert, hier und da alternativ oder weitreichender übersetzt und so aus dem manchmal etwas kryptischen Text eine lebensnahe und praktische Übungsanleitung macht.

Seiner Meinung nach gibt das Daodejing in seinen Versen tief greifende Hinweise, die auf die Theorie und Praxis des Taijiquan anwendbar sind. Beim Lesen wird schnell klar, dass hier jemand schreibt, den seine langjährige Erfahrung in dieser Kunst sehr weit gebracht hat. Und damit eben auch befähigt, diesem Text Dinge zu entnehmen, die anderen aus unterschiedlichen Gründen verborgen blieben. Der häufigste Grund mag sein, dass es sich bei anderen Kommentatoren entweder um Philosophen oder um Sinologen handelt. Womit die erste meiner Fragen beantwortet wäre. Und gleichzeitig auch schon Teile der zweiten.

Jan Silberstorff hat sich in der Recherche und Übersetzung des Textes sehr viel Mühe gegeben und ist im Rahmen seiner Arbeit an diesem Text zum Beispiel darauf gekommen, dass die Wilhelmsche Übersetzung des Daodejing nicht auf einem chinesischen Originaltext beruht, sondern dass Richard Wilhelm wenigs-tens fünf verschiedene chinesische Versionen des Daodejing für seine weltberühmte Übersetzung hinzugezogen hat. In diesem vorliegenden Buch finden wir also in den chinesischen Passagen eine Art Rückübersetzung und somit erstmals einen chinesischen Text, der genau zu der Übersetzung von Richard Wilhelm passt.
Darüber hinaus hat jeder Vers für Jan Silberstorff eben nicht nur eine philosophische Bedeutung, sondern gerade eben immer eine Bedeutung für die tägliche Übungspraxis des Taijiquan. Beim intensiven Lesen wird einem klar, was für ein unglaublicher Text das Daodejing eigentlich ist. Und ist froh, dass sich endlich ein Mensch wie Jan Silberstorff dieses Textes aus Sicht des Praktizierenden angenommen hat.

Das Buch macht sich also im Bücherregal richtig gut. Doch aus Sicht der Taijiquan-Praktizierenden will es gelesen werden. Wobei Lesende selbst für sich herausfinden müssen, ob eine Lektüre von vorne bis hinten für sie am besten passt oder aber eher das intuitive Lesen unterschiedlicher Teile zu unterschiedlichen Zeiten. Ich jedenfalls freue mich auf den zweiten Band. Und werde in der Zwischenzeit weiter im vorliegenden Buch eine schier endlose Zahl an Informationen und Anregungen finden. Sehr empfehlenswert.