Xiong Daoming:
»Yan Chi Gong«
Palisander 2014, 251 Seiten, TB, 19,90 EUR
ISBN 978-3-938305-75-1
Das Yan Chi Gong ist ein umfangreiches Qigong-System, das über Jahrhunderte nur im Shaolin-Kloster gelehrt worden sein soll. Erst 1963 hat der Großmeister dieses Systems Xiong Daoming sein Wissen darüber schriftlich festgehalten. Er diktierte es einem Kalligraphie-Meister namens Pan, um es veröffentlichen zu können.
Doch dazu kam es nicht, denn bevor die Verhandlungen darüber abgeschlossen waren, starb plötzlich der Kalligraphie-Meister an Krebs, was für Xiong Daoming Grund genug war, von einer Veröffentlichung Abstand zu nehmen. 2012 gestattete Li Zhenghua, der Nachfolger des mittlerweile verstorbenen Xiong Daoming, die Veröffentlichung in deutscher Sprache.
Maik Albrecht, Schwiegersohn und Schüler von Li Zhenghua, hat die Texte aus dem Chinesischen übersetzt und zusammen mit Frank Rudolph als Buch herausgebracht, in dem sie selbst die Übungen ausführlich darstellen. Das Autorenduo ist bekannt geworden durch die beiden Bücher »Wu – Ein Deutscher bei den Meistern in China« (vgl. Rezension im TQJ II 2012) und »Tigersturz und Ringerbrücke – Effektive Trainingsmethoden für Kampfkunst und Sport.« Soweit die Vorgeschichte dieses Buches.
»Mal wieder so ein Qigong, das nach jahrhundertelanger Geheimhaltung an die Öffentlichkeit kommt«, war einer meiner ersten Gedanken dazu, doch bereits nach kurzer Zeit des Lesens merkte ich deutlich, dass ich mir so ein Vorurteil hätte schenken können.
Gleich zu Beginn der Einleitung grenzen Maik Albrecht und Frank Rudolph das Yan Chi Gong vom Qigong ab. »Qigong ist etwas für Studenten und Senioren geworden, die es als leichte Morgengymnas-tik in Parks betreiben«, so die etwas vereinfachte Zusammenfassung der vielen neu entwickelten Qigong-Formen. Das Yan Chi Gong hingegen sei eine Gong-Übung, ein systematisch aufgebautes System, so wie die ursprünglichen Gong-Übungen aus China, zu denen auch Taijiquan und Baguazhang zählten. Gong-Übungen basierten auf der chinesischen Medizin und auf der Kampfkunst, sie verhinderten Krankheiten und stärkten den Körper für den Kampf. Diese Gong-Systeme zu lernen und zu meistern schafften nur wenige. Qigong hingegen könnten alle Menschen üben, denn es sei relativ einfach und könne ohne große Anstrengung geübt werden. Doch Dinge, die ohne Anstrengung erworben werden können, seien selten viel wert.
Das klingt hier vielleicht etwas abfällig, ist aber meines Erachtens nicht so gemeint. Im weiteren Verlauf des Buches wird immer deutlicher, welches Fachwissen, welche Übungserfahrung und welchen Anspruch die Autoren haben. Und (nicht nur) aus ihrer Sicht sind Gong-Übungen eben kein Qigong.
Im zweiten Kapitel geht es um das Yan Chi Gong, Yan bedeutet Tuschestein, Chi sich entspannen oder lockern. Wie man bei einem Tuschestein ganz langsam die Tuschestange in Wasser auflöst, um eine gute Qualität der Tusche zu erreichen, so langsam sollen die Übungen ausgeführt werden, natürlich dabei entspannt und locker, um die Anstrengungen und Schmerzen in ein angenehmes Gefühl zu verwandeln.
Dieses Kapitel ist in drei Teile unterteilt. Der erste soll Haut und Gewebe stärken. Der zweite Teil zielt mehr auf die Meridiane, der dritte bereitet auf die Pflaumenblütenpfähle vor, die berühmten Pfähle, auf denen die Shaolin-Mönche trainieren und auf denen früher auch gekämpft wurde.
Die Beschreibungen der einzelnen Bewegungen sind sehr detailliert und durch viele Bilder von Maik Albrecht (insgesamt über 280 Fotos!) sehr gut illustriert. Und sie werden immer kommentiert – wozu sie da sind, wie sie wirken und worauf man beim Üben achten sollte.
Man könnte die Übungen tatsächlich gut nachmachen, wenn sie nicht so schwierig wären. Die Übungen betonen Beweglichkeit und Gleichgewicht und beinhalten viele Dehnungen, verschiedene Stände und immer wieder Positionen in der Hocke, teilweise auch nur auf einem Bein. »Schwierig« ist sicherlich relativ. Manche Übungen sind vom Ablauf relativ einfach, aber in der geforderten Langsamkeit hört die Einfachheit schnell auf.
Die LeserInnen werden des Öfteren darauf hingewiesen, beim Üben auf die eigenen Fähigkeiten zu achten und nicht zu übertreiben, die gezeigten Bilder seien die Idealpositionen, die es anzustreben gilt. Von daher sei das Yan Chi Gong für alle geeignet, zumindest die Anfangsübungen des ersten Teils. Die weiteren Übungen sind dann eher für Sportler und das gesamte System sei eine außerordentlich wirksame Trainingsmethode für alle Kampfkünste und auch für Spezialeinheiten der Polizei. Maik Albrecht kennt sich damit aus, hat er doch selbst schon Mitglieder chinesischer Einheiten trainiert.
Doch nicht nur die Bewegungsanleitungen sind sehr gut, auch die fachkundigen Kommentare und Erläuterungen, sei es zu einzelnen Aspekten des Trainings, zu Yin/Yang, zum Körperfett, zu Jin (dem gesamten Gewebe im Körper), zu den Gelenken, zur Einheit des Körpers, zur Langsamkeit und vielem mehr. Diese sind essentiell wichtig, um einen Eindruck vom gesamten System zu erhalten. Manches, was ich schon des Öfteren gelesen habe, wie zum Beispiel über Yin/Yang oder Dao, fand ich außerordentlich gut dargestellt. Hier ist deutlich zu merken, dass Maik Albrecht, der schon viele Jahre in China lebt, tief in die chinesische Kultur eingetaucht ist. Erfreulich ist in diesem Zusammenhang auch, dass bei diesen Erläuterungen immer wieder Parallelen zu westlichem Wissen gezogen werden, teilweise auch mit Bildern wie den zwei Pfahlgängern in Deutschland um 1900 herum.
Das letzte Kapitel zeigt die Tafeln, auf denen der Kalligraphie-Meister Pan die Texte niedergeschrieben hat. Diese werden anschließend unkommentiert übersetzt, so dass in diesem Kapitel die Textquelle, auf der das Buch beruht, offengelegt wird.
Fazit: Ein sehr gut gemachtes und informatives Buch über ein Übungssystem, das bei uns noch unbekannt ist, geschrieben von Autoren, die von »ihrem« System sehr überzeugt sind und das immer wieder deutlich werden lassen. Schön ist auch der Link zu den Seiten des Palisander Verlags, auf denen man ein Video mit den Übungen ansehen kann.