Frieder Anders:
Das Qi verwurzeln. Qigong und Atemtypen
Kristkeitz 2020, 212 S. geb., € 28
ISBN 978-3948378004
Bei diesem Buch merkt man sofort, dass sich der Autor seit Jahrzehnten intensiv mit den chinesischen Bewegungskünsten auseinandersetzt – theoretisch wie praktisch. Frieder Anders, ein engagierter Vertreter des Yang-Stils mit eigener Schule in Frankfurt, hat die Kriterien der inneren Kraft vom Taijiquan auf das Qigong übertragen und in den letzten Jahren das LebenstorQigong® entwickelt. In diesem Buch nimmt er die Leser*innen behutsam mit auf seinen Weg zu dieser neuen Qigong-Form.
Ausgehend von den unterschiedlichen Vorstellungen vom Kosmos und der Vorstellung der Welt und des menschlichen Körpers in Ost und West gelingt es ihm nachvollziehbar darzustellen, dass es nicht zwangsläufig ein ausschließliches Entweder-oder geben muss, wie es westliche Logik und Wissenschaftstheorie vorgeben, sondern durchaus auch ein Sowohl-als-auch. Qi ist sowohl vorstellbar als energetische Kraft des Himmels wie auch als Manifestation aller Seinsgegenstände auf der Erde.
Der Autor beschreibt, dass der Wunsch nach Entspannung und Sinken in unserer hektischen Welt ohne die Gegenbewegung einer inneren Aufrichtung eher zur Erlebniswelt einer »Couch-Potato« führt als zum erwünschten Gefühl von Ausgeglichenheit und innerem Wachstum. Er erklärt kurz und prägnant die wesentlichen Begriffe und Zusammenhänge chinesischer Philosophie wie Medizin und deren Unterschiede zu den Sichtweisen in der westlichen Anatomie und den Sportwissenschaften. Durch die Hereinnahme von Erkenntnissen der Faszienforschung und ihrer augenfälligen Analogien hin zu den Meridianverläufen wird seine Argumentationskette nachvollziehbar.
Mithilfe einfacher, aber einleuchtender Grafiken und Fotos wird deutlich, dass die myofaszialen Leitbahnen im Körper über einfache Dreiecksverläufe bis hin zum Modell einer Kugel für eine klare Aufrichtung des Körpers und eine gute Körperspannung mit einem runden (geweiteten) Rücken sorgen. Unter Verwendung des Begriffs des »schwebenden Drucks« aus der Biotensegrity führt er aus, dass ein aufspringender – selbstverständlich gut aufgepumpter(!) – Ball als Vorbild für alle Qigong-Übenden dienen kann.
Die Akupunkturpunkte »Pfeiler der Person« (Dumai 12) und Mingmen (Dumai 4) auf der Brustwirbel- bzw. der Lendenwirbelsäule sind entscheidende Anker- punkte für das LebenstorQigong, das der Autor im zweiten Teil seines Buches mit großformatigen Zeichnungen und Fotos darstellt. Hier können nur diejenigen mit- gehen, die eine der Grundannahmen von Frieder Anders, die Unterscheidung von lunaren und solaren Atemtypen, akzeptieren und beim Üben der vorgeschlagenen acht Haltungen umsetzen. In diesem Teil wird der Taiji-Lehrer plötzlich streng: Auf zehn Seiten werden die möglichen Fehlhaltungen illustriert; ein »Sowohl-als-auch« gibt es nun nicht mehr.
Langjährige Übende, vor allem solche, die ihre Haltung verbessern möchten, werden von diesem Buch sicherlich am meisten profitieren. Aber auch diejenigen, die eine logisch aufgebaute, nahezu wissenschaftlich anmutende Darlegung von Grundbegriffen als Hintergrund ihres Unterrichts oder der eigenen Übepraxis suchen.