TQJ 3/2019

Rezensent:
Georg Patzer

Kai Marchal:
Tritt durch die Wand und werde, der du (nicht) bist. Auf den Spuren des chinesischen Denkens
Matthes & Seitz 2019, 348 Seiten geb., € 28,
ISBN 978-3-95757-702-3

Das kommt jetzt wahrscheinlich überraschend für uns alle: Haben wir nicht gelernt, dass Laozi ein mystischer Anarchist war und Konfuzius ein dogmatischer Beamter, der Ruhe und Ordnung herstellen wollte? Mit Elternverehrung und Sicheinfügen in eine Hierarchie? Und jetzt kommt Kai Marchal und stellt uns einen jungen chinesischen Gelehrten vor, der ausgerechnet Konfuzius für den »vollendeten Menschen« hält, nicht Laozi.

In einem wunderbaren Buch erzählt Kai Marchal seine Geschichte: Wie er von Wilhelmshaven nach Heidelberg kam, wo er Sinologie studiert und auch ein bisschen Taijiquan lernt, wie es ihn dann in die Welt treibt, wie er China für sich entdeckt. Der Untertitel täuscht ein wenig: Es ist eine persönliche Suche, keine systematische Einführung. In einer großangelegten essayistischen Collage erfahren wir nicht nur, wie es dem jungen Kai Marchal ging in seiner kontaktscheuen Einsamkeit und dem »selbstgewählten Entwurzeltsein«, sondern unter anderem auch, dass er das Chinesische für einen Fuchsbau hält: »So viel Windungen, dass man nie mehr herausfindet. Ungefundenes, nie zu Findendes, kann so endlich aufgestöbert werden.« Beispielsweise wenn man »Urteilsvermögen besitzt er nicht« auch als »wo hätte er geeignetes Material (für ein Floß)« übersetzen kann.

Sein Hauptthema aber ist dieser Wang Bi, der von 226 bis 249 lebte. Er war ein junger Gelehrter und niederer Beamter im Staat Wei in einem der drei Königreiche und schrieb zwei Kommentare, einen zum Daodejing, einen zum Yijing. Selbstbewusst war er bis zur Arroganz, und um das Jahr 243 stellte er zum ersten Mal in der chinesischen Geschichte die These auf, dass Konfuzius und Laozi sich nicht widersprechen, sondern eine Einheit bilden. Im Wort »Nichts« entdeckte er »eine fundamentale Schwäche des Daoismus«, weil ständig darüber geredet wird, während Konfuzius das Wort kein einziges Mal ausspricht, »und genau dieses Schweigen ist der beste Beweis, dass er sich bereits zutiefst in das Nichts eingeübt hat«: Konfuzius ist Laozi überlegen, »weil er die höchste Wahrheit in einer schlichten Sprache ausdrückt«, so tut, als wenn er oberflächlich über Alltagsdinge spricht, aber eigentlich damit den Schüler wieder auf den Übungsweg zurückbringt, und das ist nun mal der Alltag.

Gern würde ich noch seitenweise aus dem Buch zitieren. Denn es ist eine wundervolle Mischung aus Philosophiegeschichte, Reisebericht und Autobiographie, prägnant und humorvoll erzählt er seine Geschichten, verknüpft sie, lässt sie allein weiterschwimmen. Und jetzt wünsche ich mir nur noch eins: Dass Kai Marchal die Schriften von Wang Bi schön ausführlich kommentiert herausgibt.